Vergebung als Akt der Selbstliebe

Erschienen in ‚Anders Handeln‘, Ausgabe 1.2017 unter dem Titel: „Was Hänschen kann, muss Hans wieder üben“. Von Beate Weingardt – gekürzt und hervorgehoben von Antje Brunschön

(…) Kinder kommen mit einem angeborenen Sinn für Gerechtigkeit auf die Welt. Wird er verletzt, so protestieren sie – und kommunizieren ihren Schmerz und ihre Wut auch ohne Scheu. Doch auffallend ist: Kinder sind nicht nachtragend. Sie haben ein gutes Gedächtnis, aber sie müssen nicht lernen zu vergeben – sie tun es einfach. Man könnte auch sagen, es waltet in ihnen eine Großmut und eine Großherzigkeit, die Erwachsene meist nicht mehr kennen.
Warum ist das so? Es ist die Beziehungsebene, die für Kinder und Jugendliche im Zentrum (…) steht. (…)
Doch mit der Schulung ihres Verstandes, mit der Sozialisierung in unserer Kultur lernen sie, das Interesse an der Beziehungsebene immer mehr in den Hintergrund zu drängen. Sie verinnerlichen die Leitsätze der Erwachsenenwelt: „Sieh zu, dass du dich durchsetzt!“ – „Lass dir nichts gefallen!“ – „Wenn du recht hast, brauchst du nicht nachzugeben.“ (…) Vergeben und Einlenken im Streitfall werden als Schwäche gewertet, Unnachgiebigkeit und Unversöhnlichkeit als Stärke gesehen. (…)
Es gibt zwei Überzeugungen, die das Vergeben beim erwachsenen Menschen massiv erschweren. Die erste davon lautet: „Vergeben sollte man nur dann, wenn der Verletzer Reue zeigt und um Entschuldigung bittet.“ Dieser Gedanke hat gute Gründe: Zum einen ist eine Bitte um Entschuldigung Balsam auf die eigene Wunde. Zum anderen bieten Reue und Schuldbewusstsein, sofern ehrlich gemeint, eine gewisse Gewähr dafür, dass der Verletzer sein Tun nicht wiederholen wird – was bei fehlender Einsicht hingegen kaum zu erwarten ist. Es liegt deshalb nahe, die eigene Vergebungsbereitschaft an die Bedingung zu knüpfen, der Verletzer möge zuvor seine Schuld anerkennen. (…)
Die bedingte Vergebung hat zwei gravierende Probleme im Schlepptau: Zum einen: Was geschieht, wenn „der Schuldige“ auf exakt dem gleichen Standpunkt steht? (…) Nichts geschieht, nichts kann sich entwickeln. (…) Dies ist deshalb wahrscheinlich, weil ein Konflikt auf völlig unterschiedliche Weise wahrgenommen, interpretiert und erst recht erinnert wird. (…)

Übereinstimmende Beurteilungen lassen sich auch durch Argumente nicht erzwingen, Diskussionen führen oft nur zu neuen Vorwürfen und Kränkungen. (…) Wer die eigene Vergebungsbereitschaft an die Bedingung knüpft, der Verletzer müsse zuvor seine Schuld eingestehen, macht von diesem Gegenüber auch die eigene Lebensqualität abhängig. Ist doch das psychische Wohlbefinden während des angespannten und frustrierenden Wartens auf ein Schuldgeständnis deutlich beeinträchtigt. Bleibt es aus, droht Verbitterung.

„Wer vergibt, macht damit dem Verletzer ein großes Geschenk.“ Warum dem Verletzer? Nicht selten ist sich dieser ja gar keiner Schuld bewusst oder zeigt keinerlei Bereitschaft, eigene Fehler anzuerkennen. Das „Geschenk“ der Vergebung würde er womöglich zurückweisen mit den Worten: „Du hast mir nichts zu verzeihen!“ (…)
In der Tat, Vergebung ist ein Geschenk – etwas, das nicht erzwungen, aber auch nicht aufgezwungen werden kann. Doch (..): Wenn ich vergebe, beschenke ich in erster Linie mich selbst. Diese Einsicht – und keine andere – ist der Ausgangspunkt aller intrinsischen (…) Motivation zur Vergebung!

Vergebung ist ein Akt der Selbstliebe

Dieser Blickwinkel ist für viele gekränkte Menschen zunächst vollkommen ungewohnt. Sind sie doch überzeugt, dass nur derjenige, der ihnen Böses angetan hat, sie auch vor den schwerwiegenden seelischen Folgen dieses Bösen erlösen kann. Diese Folgen reichen von Enttäuschung, Wut, Hass und Bitterkeit über Ratlosigkeit, Scham, Groll bis hin zu Depression. Nicht nur das Vertrauen in den anderern, sondern mehr noch das eigene Selbstwertgefühl ist erschüttert. Doch nicht der andere kann uns letztlich (…) befreien, sondern nur wir selbst.
Vergebung bedeutet weder Bagatellisieren noch Verharmlosen der Verletzung, weder Verzicht auf Distanz noch auf materielle Entschädigung, sofern diese möglich ist. Vergebung hat auch nicht zwingend etwas mit Versöhnung zu tun, denn zur Versöhnung bedarf es beider Beteiligter, was meist nicht in unserer Macht steht. (…) Vergebung ist ein geistig-seelischer Bearbeitungsprozess, der uns emotional befreit von den Fesseln der Abhängigkeit oder Infragestellung unseres Selbstwertes, als welche wir die Verletzung im Kern erfahren haben.

Doch wie >geht< Vergebung praktisch? (…) Vergebung geht überhaupt nicht, sondern wir sind es, die gehen. Wir verlassen unseren bisherigen Standpunkt. Wie bei einer Bergbesteigung geht es Schritt für Schritt (…) Doch was uns durchhalten lässt, ist das Ziel: Am Ende erwartet uns tiefe Erleichterung und Dankbarkeit, es geschafft zu haben. Wir werden >drüberstehen< – im wahrsten Sinn des Wortes. Und Freiheit erfahren.

Mindestens drei Stufen (…) hat der Weg der Vergebung. Die erste Stufe: erkennen und anerkennen, dass man gekränkt, verletzt, verwundet ist. Den Schmerz nicht verdrängen, sondern zulassen, denn nur wer seine Emotionen anschaut und anerkennt, hat die Chance sie zu verändern. Und auch wenn unser Stolz sich manchmal dagegen wehrt, besonders wenn Verletzungen längere Zeit zurückliegen (zum Beispiel in der Kindheit), sollten wir uns klarmachen: Nur was wir zulassen, können wir auch loslassen.

Die zweite Etappe:
Eine hohe gedankliche Herausforderung besteht auch darain, kritisch die eigenen Ansprüche zu hinterfragen. Auf welchem Recht gründen sie? Wurden die Erwartungen des Gegenübers ebenfalls enttäuscht? Warum gebe ich dem Gegenüber die Macht, mich an diesem Punkt so sehr anzugreifen? (…) Der Zweck dieser Reflexionen, die möglichst im Austausch mit einem sachlichen, aber auch einfühlsamen Gesprächspartner stattfinden sollte, liegt darin, was geschehen ist mit größerem Abstand zu betrachten.
Ein Ziel ist aber auch, sich von der ausschließlichen Opferrolle zu verabschieden. (…) Am Ende dieser zweiten Stufe steht ein Perspektivenwechsel, (…) eine Neueinschätzung und Neubewertung dessen, was uns verletzte.

Für den dritten Schritt, die Entscheidung zur Vergebung, gibt es keine Pauschalrezepte (…) Dem ersten ist ein Ritual wichtig, dem Zweiten ein Signal dem Verletzer gegenüber, dem Dritten eine symbolische Handlung in Gegenwart von Zeugen. Doch vor einer Fehleinschätzung sollte man sich hüten: „Wenn man einmal vergeben hat, hat man die Angelegenheit für immer abgehakt.“ Gerade bei schweren Verletzungen wird dies nicht der Fall sein. Sie graben sich ins Langzeitgedächtnis ein. Durch Vergebung ändert sich jedoch die Art und Weise des Erinnerns. „Ich danke allen, die mich verletzt haben“, schreibt Paulo Coelho (…). „Sie haben mich gelehrt, im Schmerz zu wachsen; ich danke allen, die mich verraten und missbraucht haben, sie haben mich wachsam werden lasssen…“

Um Wachstum und Wachsamkeit geht es, solange wir leben und lebendig bleiben wollen. Darüber hinaus haben auch Narben ihr Gutes – sie erinnern uns an Überstandenes und an die Verletzlichkeit unserer Mitmenschen. Und sie sind ein Zeichen dafür, dass wir als irrende Menschen einander nicht immer gerecht werden können, sondern auf Vergebung „wie im Himmel, so auf Erden“ angewiesen sind.

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